von: veloträumer
Re: Radikale Reiseverweigerer (Re: Gefakete Radreisen? - 04.08.15 14:08
In Antwort auf: Yadgar
ob Ihr Euch heutzutage lebende erwachsene Menschen hier in Deutschland vorstellen könnt (oder sogar real kennt), die weder körperlich noch geistig oder psychisch gehandikapt sind und sich trotzdem in ihrem ganzen Leben nie weiter als fünf Kilometer von ihrem Wohnort entfernt haben. Kann es so etwas geben?
Wohl ja, das liegt aber einige Jahre zurück und waren natürlich eher alte Menschen. Ich kann mangels Gedächtnisleistung die Fälle nicht mehr gut beschreiben. Tatsächlich lernte ich solche Menschen mehrere kennen - nicht zuetzt durch meine Mutter. Typische Fälle in dieser Richtung sind/waren zuweilen auch Mönche und Nonnen.
Ein konkreter Fall, der in die Richtung geht, kenne ich aus meiner Studentenzeit. Es gab einen sog. ewigen Wohnheimbewohner, d.h. er hatte sich so etwas wie eine Dauerwohnrecht im Studentenwohnheim erwirkt (sonst 2 Jahre befristet). Sein Reich lag zwischen Uni (auf einem Hügel, ca. 15 Min. Fußweg) und dem Wohnheim mit einer kleinen Kneipe, die durch Wohnheimbewohner betrieben wurde (dadurch konnte man verlängertes Wohnrecht erhalten). Selbiger stand also dort am Ausschank. Laut eigenen Angaben war er nach einer zweistelligen Semesterzahl noch nie am Bodenseeufer oder in der Stadt Konstanz gewesen (daselbst Bodensee ab Mensa weniger als ein Kilometer, Altstadt ca. 3-4 km). Auch sonstige Fremdgänge in die Welt wären ihm suspekt gewesen. Von Heimfahrten zu Angehörigen wusste ich nichts, kann aber durchaus gewesen sein.
Zwar nicht Welt-unerfahren, aber das Fixieren auf Orte ohne die Umgebung kam unter Studenten häufiger vor (Bibliothek/Mensa/Wohnheim) - nicht selten auch bei ausländisch Studierenden, die im Wesentlichen ihre Dissertation etc. im Kopf hatten - besonders also Karrieristen und engagierte Studentenkämpfer (ASTA etc.)
In der arbeitenden Bevölkerung jenseits von Akademikern und Forumsteilnehmern ist das Verreisen aber gar nicht so populär, wie es durch Statistiken erstmal zu glauben sein mag. Zu meiner Post-Arbeitsphase habe ich viele Angestellte kennen gelernt, die Reisen des Verreisens willen nie in Betracht gezogen haben. Das galt auch für junge Kerle (Urlaub haben die z.B. für Fasnacht genommen.) Natürlich kamen sie weiter als 5 km vom Haus weg - etwa Verwandtenbesuche in Deutschland o.ä. Man sollte aber als Deutscher i.A. und als Radreisender i.S. nicht davon ausgehen, das Reisen einjeder gleichwohl als oberste Erfüllungsstufe des Lebens ansieht - nicht mal beim Reisevolk Nr. 1.
Eine der interessantesten Erkenntnisse des Reisens ist ja die, dass die "authentischsten" Menschen die sind, die mit ihrer Heimat eng verwurzelt sind und noch nie in die Welt gezogen sind - z.B. der von der Sonne faltig gegerbte Bergbauer in einem abgeschiedenen Tal, der alle (alten) Geschichten eines Ortes und seiner Besucher zu erzählen weiß - egal wieviel Fantasie er dabei benutzt. Jeder (Welt)Reisende ist hingegen in seiner Identität aufgeweicht bis entwurzelt. Der Globetrotter in Reinkultur hat schließlich gar keine Heimatgefühle mehr. Jeder muss etwas aufgeben, um etwas anderes zu werden, um neue Wege zu beschreiten.